Macht und Gerechtigkeit

Von der moralischen Unzuverlässigkeit der Herrschenden

Mir ist aus meiner Jugend (ich war damals etwa 17 Jahre alt) eine Szene in Erinnerung, wo mir ein Erwachsener sinngemäß sagte: "Die da oben an der Regierung sind entweder verrückt oder kriminell oder vielleicht beides!" Ich lebte damals in der DDR, war ein vollkommen unpolitischer Mensch und hatte für diese Aussage überhaupt kein Verständnis.

Mir fällt auch ein Spruch ein, der in meiner Familie ab und zu fiel: "Gehe nicht zum Fürst, wenn du nicht gerufen wirst!" Meine Eltern stammten aus Wernigerode am Harz, das bekanntlich ein Schloß besitzt, das früher den Grafen von Stolberg-Wernigerode gehörte. Auch in diesem Satz drückte sich ein abgrundtiefes Mißtrauen gegenüber der Obrigkeit aus.

Für mich war diese Obrigkeit weit weg. Ich betrachtete die Welt aus der Perspektive meiner Familie und da erlebte ich von meinen Eltern und meiner Großmutter eine überaus liebevolle Behütung. Heute würde ich sagen, wahrscheinlich viel zu viel davon. Eine politische Obrigkeit konnte ich mir nur nach dem Muster meiner Eltern vorstellen, genauso pflichtbewußt, nur mit mehr Verantwortung.

Offensichtlich haben mich aber solche Aussagen irgendwie verunsichert, sonst hätte ich sie nicht bis heute im Gedächtnis bewahrt. Und hier zeigt sich meiner Ansicht nach etwas durchaus Typisches, das nicht nur ich erfahren habe: Es fällt wohl jedem Menschen sehr schwer zu begreifen, daß die Welt, wie er sie in seiner Familie erlebt hat, eine ganz und gar andere ist, als jene Welt der Öffentlichkeit in Politik und Wirtschaft. Hier gelten offenbar andere Gesetze! Dieser Unterschied ist umso gravierender, je freundlicher, großzügiger und rücksichtsvoller der Umgang in der Familie gewesen ist.

Es hat ein ganzes Leben gedauert, bis ich meine sorglose Naivität (Schütze-Sonne und Schütze-Merkur) etwas verloren habe. Heute ist für mich der eingangs angeführte Satz keineswegs mehr so abwegig, obwohl es natürlich auch bei Machthabern große Unterschiede gibt. Das hat nicht nur mit der Enttäuschung zu tun, die bei älteren Menschen (ich bin heute 75) gewissermaßen natürlich und im Laufe des Lebens zu erwarten ist. Es hat vor allem strukturelle Gründe, über die es sich lohnt, genauer nachzudenken.

In der Soziologie werden Familien als "Primärsysteme" bezeichnet, wirtschaftliche und politische Organisationen hingegen als "Sekundärsysteme". Ein primäres System ist dadurch gekennzeichnet, daß es seine Mitglieder nicht aussuchen oder entlassen kann, also entsprechend Rücksicht nehmen muß auf ihre Begabungen und Fähigkeiten und zusätzlich einen starken emotionalen Zusammenhalt bietet. Sekundäre Systeme sind in allem das Gegenteil: Hier werden die Mitglieder nach ihrer Brauchbarkeit beurteilt, je nach ihrer Leistungsfähigkeit entweder eingestellt oder entlassen und das jeweilige System wird nicht durch Emotionen sondern durch Funktionalität zusammengehalten.

Es versteht sich von selbst, daß beide Systeme dort, wo sie hingehören, in Ordnung sind. Wahrscheinlich ist es aber einfacher, in der Familie das geforderte Verhalten zu zeigen als in öffentlichen Strukturen. Das liegt nicht nur daran, daß die Verhältnisse in der Familie übersichtlicher und deshalb besser zu händeln sind. Es liegt vor allem an der emotionalen Distanz in Wirtschaft und Politik, die deshalb ein besonders großes Maß an mitmenschlicher Verantwortung einfordert, wenn Menschen gerecht behandelt werden sollen. Astrologisch ausgedrückt: In der Öffentlichkeit können wir uns nicht mehr auf Mond plus Neptun (die einfühlsame Fürsorge einer Mutter) verlassen, wir benötigen die Energien von Saturn plus Neptun, also die soziale Verantwortung, die immer in der Gefahr steht, mit den Energien von Saturn plus Uranus in Bevormundung und Unterdrückung zu entgleisen.

Die allgemeine Erfahrung dürfte mir Recht geben, daß wir uns bisher im Privatleben, das immer stark von familiären Erfahrungen geprägt ist, ganz gut aufeinander verlassen können. Natürlich gibt es hier auch Nachlässigkeit, Trägheit und Inkompetenz, aber nur sehr selten die ausdrückliche Absicht, den anderen zu schaden und sie bewußt ins Unglück zu stürzen. Diebstahl, Vergewaltigung, Mord und Totschlag kommen zwar vor, sind aber die deutliche Ausnahme, gelten zu Recht als "kriminell" und werden entsprechend verurteilt und bestraft.

Mir scheint es nun so zu sein, daß sich das Verhältnis von normalem angepaßten Verhalten zu kriminellen Machenschaften langsam umkehrt, je höher Menschen in Positionen der Macht aufsteigen. Es läßt sich vielleicht geradezu ein Gesetz ableiten: Je mächtiger ein Mensch wird, desto eher wird sein normales Verhalten kriminell sein.

Dieses vermutete Gesetz ist nicht gerade beruhigend. Von den Machthabern in der Gesellschaft ist offenbar am wenigsten ein moralisches Verhalten zu erwarten. Es gibt aber plausible Gründe, daß es sich tatsächlich so verhält:

- Der Kampf um Spitzenpositionen und Spitzengehälter in der Gesellschaft bringt Menschen von besonderer Veranlagung zusammen, sogenannte Alpha-Männchen (und inzwischen auch Alpha–Weibchen), die alle einen starken Ehrgeiz und die dazugehörige Rücksichtslosigkeit besitzen. Astrologisch gesehen sind das Menschen mit einer Uranus-Dominanz, die also im Horoskop Energie-Verbindungen von Uranus, Saturn, Mars und Pluto (bzw. Lilith, Saturn und Mars) besitzen, oft als Mehrfach-Betonungen. Im Wettbewerb um die begehrten Posten siegt normalerweise nicht der Klügste, Gerechteste oder gar Hilfsbereiteste, sondern in der Regel der Durchsetzungsfähigste, oft der Cleverste mit Blender-Qualitäten und gar nicht so selten der Hemmungsloseste. Es findet also charakterlich eine Negativauslese statt.

- Ein weiterer Grund dürfte darin zu suchen sein, daß Machthaber Diener eines sekundären Systems sind, das ihnen einerseits zwar ihr Geltungsbedürfnis befriedigt, andererseits sie aber zwingt, im Sinne dieses Systems zu handeln, wenn sie ihre Machtposition nicht verlieren wollen.

- In sekundären Systemen wird die Gewissenbindung (Krebs) weitgehend ersetzt durch Kontrolle in hierarchischen Strukturen (Steinbock). Je höher ein Mensch in diesen Strukturen aufsteigt, desto weniger wird er von außen eingeengt und kontrolliert. An der Spitze der Macht-Pyramide fehlt folglich oft jede Kontrolle der Machthaber. Die Kontrolle von unten kann die Kontrolle von oben aber nicht in gleicher Stärke ersetzen, denn sie läßt sich nur schwer wirkungsvoll organisieren.

- Sekundäre Systeme, z.B. Wirtschaftskonzerne, sind nicht nur anonym im Hinblick auf ihre Belegschaftsstruktur, sondern auch anonym im Hinblick auf ihre Wirkungen in der Gesellschaft. Wenn ein Konzern etwa die Privatisierung der Wasserversorgung oder der Gesundheitsdienste betreibt, dann sehen die dort arbeitenden Mitarbeiter nicht direkt, welche Folgen eine solche Unternehmensstrategie auf ganze Länder und die dort lebenden Menschen hat.

- Die eigentlichen Machthaber dieser Welt haben mit einem Lebenskampf, wie ihn normale Menschen führen müssen, überhaupt nichts mehr zu tun. Sie sind als Milliardäre derart unvorstellbar reich und mächtig, daß sie allen Risiken absolut entzogen sind. Diese Menschen bindet nichts mehr. Sie ziehen aus dem Hintergrund völlig unkontrolliert ihre Strippen, und sie sind gerade durch ihren Reichtum in einer Weise an eine oberflächlich-materialistische Lebensart gebunden, daß sie für mitmenschliches und solidarisches Verhalten in der Gesellschaft keinen Sinn mehr haben.

Aus diesen Gründen gibt es meiner Meinung nach eine Tendenz, daß sich sekundäre Systeme im Laufe der Zeit ständig verschlechtern bis sie einen Grad der Verdorbenheit erreicht haben, der zu offenen Kriegen, Umweltkatastrophen oder einem revolutionären Umsturz führt. Nach einer Phase des Zusammenbruchs und chaotischer Verhältnisse wird dann eine neue (ungerechte) Ordnung etabliert, die sich nach demselben Gesetz wiederum irgendwann erschöpft.

Wen diese grundsätzlichen Überlegungen nicht überzeugen, der möge sich an geschichtliche Erfahrungen halten. Die Geschichte zeigt nur zu deutlich, was Machthaber anrichten können und wie sie zu allen Zeiten den einfachen Menschen übel mitgespielt haben. Von der Sklaverei in der Antike über die Leibeigenschaft im Mittelalter bis zur Ausbeutung der Proletarier im Frühkapitalismus läßt sich ihre Rücksichtslosigkeit beobachten. Und die schlimmste Blutspur haben die Kriege hinterlassen, wo Hunderttausende und am Ende Millionen von Menschen aufeinander gehetzt wurden, weil es den Interessen der Mächtigen so gefiel. Alle diese Epochen sind zu ihrer Zeit zugrunde gegangen und wurden dann durch eine andere Epoche abgelöst, die eine neue Spielart der gesellschaftlichen Ungerechtigkeit etabliert hat.

Wir erleben in unserer Zeit seit etwa 40 Jahren eine Offensive des Neoliberalismus, wo es letztlich um nichts anderes geht, als die Welt nach Einflußbereichen neu aufzuteilen und den Sozialstaat, wie er sich nach dem 2. Weltkrieg in Deutschland und in Europa herausgebildet hat, wieder abzuschaffen. Das Zauberwort heißt "Wettbewerbsfähigkeit", was im Grunde einen Kampf jeder gegen jeden bedeutet. Für diesen unerklärten Wirtschaftskrieg müssen von den einfachen Menschen die Opfer des Lohn- und Sozialdumping, der Rentenkürzung und der prekären Beschäftigung erbracht werden, während auf der anderen Seite der Gesellschaft die Einkommen und Besitzverhältnisse der Mächtigen ins Unermeßliche wachsen. Von Korruption, Steuerhinterziehung, Geldwäsche und anderen kriminellen Handlungen, von denen wir jede Woche in den Medien erfahren, ganz zu schweigen. Vielleicht geht jetzt auch diese Epoche der Ungerechtigkeit ihrem Ende entgegen.

Wenn also die äußeren Strukturen keine Sicherheit dagegen bieten, daß die absolut falschen Menschen an die Schalthebel der Macht gelangen, dann könnten es nur innere Bindungen sein, die Menschen davon abhalten, ihre Macht zu mißbrauchen. Wir müssen deshalb hier noch einmal über das Gewissen sprechen. Das Gewissen ist letztlich die einzige Instanz, die auch Machthaber etwas bremsen könnte, sich dem gegenwärtigen System der Ungerechtigkeit vollständig auszuliefern, unter der Voraussetzung, daß es entsprechend gebildet wurde.

Die Gewissensbildung durchläuft mehrere Phasen. Zunächst wird es in der Herkunftsfamilie geprägt und die entscheidende Bezugsperson ist dort die Mutter. Astrologisch gesehen ist das Gewissen ein Produkt der Krebs-Energie. Die ständige emotionale Fürsorge, das ständige besorgte sich Kümmern in allen Lebenslagen führt beim kleinen Kind dazu, daß die Mutter als Maßstab gewissermaßen verinnerlicht wird. Manche Psychologen sprechen sogar davon, daß die Mutter geradezu eingeatmet wird. Man kann diesen Prozeß in seiner Wirkung gar nicht hoch genug einschätzen. Das Kind bekommt auf diese Weise eine moralische Innensteuerung, die sich später als Gewissensbiß immer dann bemerkbar macht, wenn sich der Mensch, auch als Erwachsener, anders verhält, als es seine Mutter gebilligt hätte. Die Mutter braucht dann nicht mehr persönlich anwesend zu sein.

Nun ist diese Prägung durch die Erziehung im Rahmen der Herkunftsfamilie nicht in jeder Hinsicht in Ordnung. Es gibt Vorlieben im Elternhaus und es gibt Tabus. Die im Horoskop angelegten Begabungen eines Menschen werden durch das Verhalten der Eltern zu Bedürfnissen eingeengt, die zur Familiensituation passen. Das geht allen Menschen so, denn niemand hat ideale Eltern. Die Transaktionsanalyse spricht in diesem Zusammenhang vom Lebensskript, das jedes Kind auf Grund von Botschaften und Zuwendung der Eltern selbst entscheidet. Es entstehen dadurch neurotische Schieflagen der Horoskop-Energien, also Übertreibungen und Untertreibungen, die später im Erwachsenenleben erkannt und durch Neuentscheidungen geändert werden müssen.

Das ist ein mühsamer und auch leidvoller Kampf um eine ausgeglichene seelische Gesundheit, der von jedem Menschen geführt werden muß und der ein ganzes Leben andauert. Die entscheidenden Erfahrungen für Verhaltensänderungen macht der Mensch dabei im Beruf und vor allem in Partnerschaften. Trotzdem ist die erste Gewissensprägung in der Herkunftsfamilie besonders im Hinblick auf eine Werteorientierung unbedingt notwendig und kann kaum durch andere Menschen oder gesellschaftliche Institutionen ersetzt werden. Ein verbogenes und fehlerhaftes Gewissen ist immer noch besser als gar kein Gewissen.

Wir müssen also das kindliche Gewissen, das von der Familie bestimmt ist, von dem Gewissen des Erwachsenen unterscheiden. Beide Gewissen können einem Menschen einen großen inneren Halt geben und ihn zum Guten motivieren, wenn die Sozialisation in der Kindheit zu einem Wertesystem der Mitmenschlichkeit und Menschenachtung einigermaßen gelungen ist. Sehr oft sind aber hier große Defizite zu beklagen. Welche fatalen Konsequenzen eine völlig mißratene Erziehung im Elternhaus haben kann, das beweist z.B. das katastrophale Scheitern einer Person wie Adolf Hitler, der ein ganzes Volk und ganz Europa in seinen Untergang mit hineingerissen hat.

Eine ausreichende Sicherheit gegen moralisches Fehlverhalten gerade in Führungspositionen wird durch eine normale Gewissensbildung also nicht erreicht. Diese Sicherheit kann es solange nicht geben, wie die Charakterbildung sich allein auf die Familie bzw. den zwischenmenschlichen Einfluß stützt. Woher sollte jedoch eine noch tiefgreifendere Bindung kommen, die den Menschen davor bewahrt, seine Macht zu mißbrauchen? Wenn das von der Familie geprägte Gewissen es nicht schafft und wenn das durch Erfahrung und Vernunft neu justierte Gewissen des Erwachsenen ebenfalls nicht ausreicht, einen Menschen davor zu bewahren, daß er den Versuchungen der Macht standhält, dann kann es sich nur noch um einen transzendenten Halt handeln, also um irgendeine Form von Religion, die diese Stärke vermittelt. Ich selbst bekenne mich zur christlichen Religion, genauer gesagt zur katholischen Kirche, aber so ausformuliert muß die Religion gar nicht gelebt werden, um segensreich zu wirken. Es genügt schon ein Bewußtsein für eine Wirklichkeit, die dem Menschen absolut überlegen ist und der er sich in seinem Handeln absolut verpflichtet fühlt. In diesem Sinne hat z.B. der evangelische Theologe Paul Tillich das Religiöse erklärt.

Machthaber sollten meiner Meinung nach innerlich-religiös in diesem Sinne gebunden sein. Das heißt aber nicht, daß ich befürworte, wir sollten in irgendeiner Form zum "Gottesgnadentum" des Mittelalters zurückkehren. Die demokratische Kontrolle von unten durch Wahlen, die spontanen Proteste von Bürgerinitiativen und die Aufdeckung von Mißständen durch investigative Journalisten in kritischen Medien müssen unbedingt bleiben. Sie werden aber - wie die Erfahrung zeigt - nicht ausreichen, um die Machthaber in ihrer Rücksichtslosigkeit zu bremsen.

Vielleicht wird jetzt jemand entgegnen, daß es ja auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen gibt, in der den Menschen der Schutz vor Willkürhandlungen gerade der Mächtigen garantiert wird. Wozu brauchen wir also noch Religion? Meine Entgegnung ist: Weil diese Erklärung der Menschenrechte, die fast alle Nationen unterschrieben haben, nicht umgesetzt wurde. Ganz im Gegenteil, sie blieb nur gedrucktes Papier, feierlich von den Regierungen unterzeichnet, aber ansonsten weitgehend wirkungslos. Die maßgebenden Staaten, allen voran die USA, setzen sich eben nicht für Gerechtigkeit ein (astrologisch eine Verbindung der Energien von Neptun, Venus und Chiron) sondern allein für ihre Macht-Interessen (astrologisch eine Verbindung der Energien von Uranus, Saturn und Pluto). Es fehlt letztlich der von einer transzendenten Überzeugung getragene Respekt der Menschen voreinander und vor allem das von einer transzendenten Überzeugung bestimmte inwendige Gewissen der Machthaber. Es fehlt an echter und wirksamer Religion.

Hier kommt unweigerlich der Einwand vieler Zeitgenossen, daß die Religion ja selbst ein großes Übel darstellt. Es wird auf die zahlreichen Mißstände in der Geschichte verwiesen, auf die im Namen der Religion geführten Kriege, auf die abergläubischen Vorstellungen vieler Christen und nicht zuletzt auf die engen Verbindungen der religiösen Institutionen (Kirchen) mit den wirtschaftlichen und politischen Eliten. Gerade um hier eine Besserung zu erreichen, gab es ja die beiden großen Reformbewegungen der Moderne: der Kampf in der Reformation im 16. Jahrhundert um die Freiheit des Gewissens und der Kampf in der Aufklärung im 18. Jahrhundert um die Emanzipation der Vernunft und die Menschenrechte.

Diese beiden (völlig berechtigten) Reformbewegungen haben aber in ihrer (verabsolutierten) Konsequenz dahin geführt, daß die Religion als Grundlage des Lebens heute keine wichtige Rolle mehr spielt. Wir erleben zur Zeit wohl den Endzustand einer Entwicklung, in der sichtbar wird, daß die Gewissensfreiheit ohne religöse Bindung zu moralischer Beliebigkeit geworden ist und die Vernunft als Basis eines gesellschaftlichen Diskurses durch die egoistische Verteidigung von Interessen praktisch abgeschafft wurde.

Es ist in dieser Hinsicht auch kein Zufall, daß der Hauptgegner des kapitalistischen Westens mit seiner modernen Gottlosigkeit der politische Islam geworden ist, für den das rigide Anhaften an religiöse Traditionen unverzichtbar ist. Die Extreme entsprechen einander. Ohne Einbindung der Religion in die Gesellschaft funktioniert offensichtlich das menschliche Leben nicht, jedenfalls nicht im Sinne der Gerechtigkeit. Insoweit hat der Islam wohl Recht, wenn er den gottlosen Westen kritisiert. Aber ohne den Gebrauch der kritischen Vernunft und ohne das Recht auf die eigene Gewissensentscheidung wird die Religion zum Terror. Hier ist der Westen im Recht.

(vgl. das Schaubild Kultur und Unkultur)

Die Religion sollte also meiner Ansicht nach das letzte Fundament für das sittliche Handeln in der Welt vor allem in Führungspositionen sein. Entscheidend ist aber die Aussage der jeweiligen Religion über das Verhältnis zu den Mitmenschen, also ihre Moral. Und hier gibt es erhebliche Unterschiede, auch bei den Weltreligionen. 

Jede Religion, die die Mitmenschen generell als Brüder und Schwestern anerkennt, ganz unabhängig davon, welche Eigenschaften ihnen ansonsten zukommen, sei es Geschlecht, Hautfarbe, Bildung, Einkommen und vor allem die jeweilige religiöse Überzeugung, jede Religion die sich also ganz im Sinne der abendländischen Tradition zu Gewissensfreiheit und Toleranz bekennt, jede dieser Religionen könnte dann das wirksame Fundament legen, das auch Machthaber daran hindert, sich unmenschlich zu verhalten.

Wir leben seit einigen Jahrhunderten im sogenannten Wassermann-Zeitalter. Der Mensch der westlich geprägten Welt hat sich seit der Renaissance in den Mittelpunkt der Welt gestellt, hat sich selbst zum Maß aller Dinge gemacht und die Religion Schritt für Schritt im Namen der Freiheit und der emanzipierten Vernunft in die Defensive gedrängt. Inzwischen leben wir weitgehend atheistisch orientiert und halten das für normal. Die neoliberalen Verhältnisse, in die wir uns dabei zuletzt hineinmanövriert haben, sollten uns aber warnen. Ein Gewissen und eine Vernunft, die nicht transzendent verankert sind, werden den Herausforderungen, denen wir uns jetzt gegenüber sehen, nicht standhalten. Und Machthaber ohne transzendent verankertes Gewissen und ohne transzendent verankerte Vernunft werden die Welt ins Unglück stürzen.

Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2015

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