Neurotische Lebensrollen und Ich-Zustände
In der Transaktionsanalyse konstituieren die neurotischen Lebensrollen das sogenannte Drama-Dreieck. Es handelt sich um die drei Rollen von Opfer, Retter und Verfolger, die miteinander durch Transaktionen verbunden sind. Jeder Mensch verwendet alle drei Rollen, hat aber auch seine Lieblingsrolle, auf die er vor allem unter Streß immer wieder zurückgreift. In der zwischenmenschlichen Transaktion kommt es deshalb häufig zu einem plötzlichen Wechsel bei der Rollenbesetzung. Das führt zu kleinen dramatischen Szenen, die als Psychospiele bezeichnet werden.
Diese neurotischen Rollen stehen in einem engen Verhältnis zu den Ich-Zuständen, die eine zentrale Bedeutung innerhalb der Transaktionsanalyse besitzen. Man unterscheidet das Kind-Ich, das Eltern-Ich und das Erwachsenen-Ich. Alle Ich-Zustände sind in Ordnung, können aber auch negativ gelebt werden. Sowohl das negative Kind-Ich als auch das negative Eltern-Ich sowie das negative Erwachsenen-Ich sind unreife Positionen, die eine partnerschaftliche gleichberechtigte Begegnung zwischen erwachsenen Menschen unmöglich machen. Lediglich in Sondersituationen (z.B. bei einem Krankenhausaufenthalt) haben sie eine Berechtigung. Ansonsten müssen sie als neurotische Verhaltensweisen überwunden werden. Für den reifen Menschen ist die allein angemessene Position das gesunde Erwachsenen-Ich. Allerdings müssen in dieses Erwachsenen-Ich immer auch die Haltungen des positiven Kind-Ich und des positiven Eltern-Ich aufgenommen werden. Die Transaktionsanalyse bezeichnet diesen komplexen Ich-Zustand als "Integriertes Erwachsenen-Ich".
Den Unterschied zwischen Rollen und Ich-Zuständen sehe ich darin, daß ein Ich-Zustand Auskunft darüber gibt, in welcher (skriptgebundenen) ursächlichen Verfaßtsein sich ein Mensch im Augenblick seines Handelns befindet (Kindposition, Elternposition, Erwachsenenposition), während die Rollen des Drama-Dreiecks ein dysfunktionales soziales Verhalten beschreiben, was eine große Beständigkeit besitzt. Die Rollen sind deshalb im Grunde nichts anderes als die Beschreibung der Ich-Zustände mit einer sozialen Begrifflichkeit.
Im negativen angepaßten Kind-Ich zeigt der Mensch ein stark gefühlsbetontes Verhalten z.B. in Form der Überängstlichkeit oder in Form des übertriebenen Gehorsams. Dieses Verhalten hat sich in der frühesten Kindheit herausgebildet, wahrscheinlich schon während der Schwangerschaft. Es konstituiert die Rolle des Opfers.
Im negativen fürsorglichen Eltern-Ich zeigt der Mensch ein übertrieben mitleidiges Verhalten. Er fühlt sich hier durch die Unvollkommenheit der Welt herausgefordert und hat das starke Verlangen, sich für die Schwächen seiner Mitmenschen aufzuopfern. Das negative fürsorgliche Eltern-Ich konstituiert die Rolle des Retters.
Im negativen kritischen Eltern-Ich zeigt der Mensch ein aggressives, distanziert intellektuelles Verhalten. Die Prägephase im Elternhaus liegt hier deutlich später, denn es werden verbale Fähigkeiten vorausgesetzt. Das negative kritische Eltern-Ich konstituiert die Rolle des Verfolgers.
Hierhin gehört aber meiner Meinung nach auch die Rolle des Rebellen, die in der Transaktionsanalyse dem negativen Kind-Ich zugeordnet wird. Auch der Rebell ist nämlich ein aggressiver Verfolger, der aber noch nicht in der Lage ist, seine Ziele eigenständig zu formulieren. Er operiert aus der Kindposition und begnügt sich deshalb zunächst damit, die Ziele anderer Menschen abzulehnen. Im Grunde handelt es sich bei dem Rebellen um eine Kombination der Rollen von Opfer und Verfolger.
Die Transaktionsanalyse kennt außerdem den Ich-Zustand des freien Kind-Ich. Diese Rolle wird im allgemeinen als sehr positiv bewertet. Um einem Menschen zu helfen, aus seinen neurotischen Verhaltensweisen auszusteigen, wird sogar oft der Rat gegeben, den spontanen Impulsen (freies Kind-Ich) zu folgen und sich vom fürsorglichen Eltern-Ich die entsprechenden Erlaubnisse zu holen. Das Erwachsenen-Ich hat dabei zuvor die Situation sachlich zu prüfen, damit keine unvorhersehbaren Schwierigkeiten auftreten können.
Hier liegt nun meiner Meinung nach eine große Einseitigkeit der Transaktionsanalyse, die ich mit den von mir eingeführten Veränderungen überwinden will. Die spontanen Impulse des freien Kind-Ich können nämlich durchaus narzißtisch hemmungslos und teilweise verrückt sein. Das wird auch in der Transaktionsanalyse so gesehen und zugegeben. Diese Erkenntnis wird aber nicht wirklich ernst genommen und deshalb wird auch nicht erkannt, daß das negative freie Kind-Ich eine eigene neurotische Lebensrolle konstituiert, nämlich die Rolle des Chaoten, die gerade für die postmoderne Gesellschaft eine immer größere und unangenehmere Bedeutung gewinnt.
Ich habe also das Drama-Dreieck um die Rolle des Chaoten erweitert. Damit wird aus dem Drama-Dreieck der Transaktionsanalyse ein Drama-Viereck.
Um die Bedeutung der Chaoten-Rolle für eine moderne Gesellschaftskritik richtig einschätzen zu können, ist es wichtig zu sehen, daß es Chaotik in doppelter Gestalt gibt: Es gibt nämlich die destruktive und die produktive Chaotik. Normalerweise denkt man bei Chaotik an ein rücksichtsloses und hemmungsloses Verhalten, Verwilderung der Sitten, Schamlosigkeit, Respektlosigkeit, Unberechenbarkeiten, sinnloses Geschwätz, provozierende Aufmachung, blinde Zerstörungswut, Skandale oder sonstige aggressive Verrücktheiten. Hier geht die Chaotik eine enge Verbindung zu rebellischem (verfolgerischem) Verhalten ein und ist als negatives neurotisches Verhalten gut zu identifizieren.
Es gibt aber auch die andere, die scheinbar positive Chaotik. Man findet sie bei den erfolgreichen Managern, Politikern, Entertainern, Moderatoren, Künstlern, Sportlern usw. Hier wird die Selbstdartellung exzessiv narzißtisch übertrieben. Im Kern wird sogar eine unter Umständen hervorragende Leistung angeboten. Man will aber nicht sehen, daß damit die Gesellschaft mit untragbaren Folgen belastet wird. Der produktive Chaot ist nicht bereit, sich um des Ganzen willen in seiner Selbstverwirklichung zurückzunehmen. Ihm fehlen vor allem Einfühlungsvermögen und echte Hilfsbereitschaft. Und er hat eine panische Angst vor dem Leiden. Nichts kann er schlechter ertragen als eine Frustration.
Der moderne Lebenstil ist gekennzeichnet durch die beiden aggressiven Rollen von Verfolgung und Chaotik. Dabei kann die eigentliche Moderne mehr durch den Begriff "Verfolgung" beschrieben werden (etwa die Hitlerzeit), die Postmoderne dagegen mehr mit dem Begriff "Chaotik". Wir leben heute in einer Zeit, wo eine kleine Zahl von Selbstdarstellern sich ständig hemmungslos in Szene setzt, während der Rest der Gesellschaft die damit verbundenen Sensationen als Unterhaltungs-Spaß passiv konsumiert. Damit wird aber trotz aller Leistungen der Zusammenhalt der Gesellschaft untergraben und die Beziehungsfähigkeit der Menschen zerstört.
Das negative Erwachsenen-Ich bedarf noch einer eigenen Erwähnung. Es ist die Haltung einer übertriebenen Sachlichkeit, die sich gleich weit entfernt hält von Betroffenheit und Erregung. Ein solcher Mensch ist scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Ich beobachte ein solches Verhalten besonders bei karrierebewußten Politikern und Wirtschaftsführern, etwa in Interviews, wo eine formelhafte Sprache gepflegt wird, die inhaltsleer bleibt, aber äußerlich unangreifbar ist. Offenbar kann auch das nüchtern-sachliche Erwachsenen-Ich, das eigentlich die vier anderen Ich-Zustände integrieren sollte, selbst zum Problem werden. In diesem Fall handelt es sich durchaus um einen neurotischen Ich-Zustand, den man vielleicht mit dem Begriff "Professionalität" bezeichnen könnte. Der "Profi" scheint genau der Menschentyp zu sein, an dessen Sprache man die kalte Sachlichkeit des Nur-Experten am besten erkennen kann. Dabei dienen die viel zitierten Sachzwänge ("Es gibt keine Alternative") oft nur als Deckmantel für ein im Grunde rücksichtsloses und chaotisches Verhalten in Wirtschaft und Politik.
Wird eine überzogene Sachlichkeit nicht auf der geistig-seelischen sondern auf der körperlich-vitalen Ebene gelebt, dann entwickeln die Menschen Zwangshandlungen. Alltägliche Verrichtungen (z.B. das Händewaschen) werden übertrieben wichtig genommen und dann entsprechend sinnlos wiederholt, weil die Energien nicht für Betroffenheit (Neptun) und Erregung (Uranus) eingesetzt werden und so für sachliche Handlungen zusätzlich zur Verfügung stehen. Aus Angst, die sachliche Mitte des Lebens durch Sensibilität oder Aggressivität zu verlieren, geraten solche Menschen zunehmend in den Sog von ritualisierten Tätigkeiten, mit denen sie sich die Sicherheit eines "normalen Lebens", oft von einer hektischen Unruhe getrieben, immer wieder zu bestätigen suchen.
Die Ich-Zustände und die neurotischen Lebensrollen lassen sich nun mit astrologischen Energien in Verbindung bringen. Dabei spielen die tiefer liegenden astrologischen Energien, die von Saturn und den transsaturnalen Planeten Chiron, Uranus, Neptun und Pluto symbolisiert werden, eine besondere Rolle.
Eine Neurose entsteht meiner Meinung nach immer durch einen falschen Umgang mit der Saturnstruktur. Das System von Saturn baut - wie ich es sehe - auf den Energien von Stier und Skorpion auf, in denen die grundlegenden Werte gespeichert werden, die kulturell bzw. subkulturell bedingt sind. Diese Werteebene entspricht in etwa dem, was in der Transaktionsanalyse mit "Bezugsrahmen" bezeichnet wird. Die Saturn-Energie gibt diesen Energien entsprechend ihrer Eigenart eine konkrete Struktur und damit Halt und Sicherheit. Trotzdem ist die Saturn-Struktur grundsätzlich nur von vorläufiger Bedeutung. Wir brauchen zwar für unser Leben ein Gerüst, eine Ordnungsstruktur, Gesetze, Normen und Institutionen, wir müssen aber diese Struktur auch immer wieder verändern und manchmal sogar revolutionär hinter uns lassen, damit das tieferliegende Leben (Skorpion/Stier) nicht erwürgt wird.
Die richtige Erhaltung bzw. Veränderung der Saturnstruktur stellt meiner Meinung nach das entscheidende Lebensproblem dar.
Die Aufgabe der transsaturnalen Energien besteht nun darin, die Struktur des Saturn einerseits in der Tiefe der Persönlichkeit zu befestigen (Skorpion/Stier), andererseits sie beweglich und lebensfähig zu erhalten (Fische und Wassermann). Die Jungfrauenergie (Chiron) vermittelt gedanklich zwischen Saturn und den transsaturnalen Energien.
(vgl. das Schaubild Saturn und transsaturnale Energien)
Neurosen sind nichts anderes als Übertreibungen dieser transsaturnalen Energien, die dann auch die anderen Energien des Horoskops in Mitleidenschaft ziehen. Dabei spielen die Energien von Wassermann (Uranus) und Fische (Neptun) die qualitativ führende Rolle. Es ist aber von entscheidender Bedeutung, ob diese Energien mit den Yang- oder Yinenergien des Tierkreises verbunden sind. Die Energien von Stier und Skorpion (Pluto) radikalisieren diesen Prozeß.
(vgl. das Schaubild Einfluß der Polaritäten)
Eine starke Betonung der Fische-Energie legt den Menschen ein lebensängstliches und mitleidiges Verhalten nahe. Eine starke Betonung der Wassermann-Energie verführt den Menschen in der Regel zu Selbstherrlichkeit und Eigenwilligkeit. Er kann diese neurotische Grundeinstellungen entweder auf der Seite der Angepaßtheit (Yin) oder auf der Seite der Spontaneität (Yang) leben. Auf diese Weise entstehen die Lebensrollen von Opfer, Retter, Verfolger und Chaot. Das ist die astrologische Begründung dafür, daß das Drama-Dreieck der Transaktionsanalyse eigentlich ein Drama-Viereck sein muß!
(vgl. die Übersicht Yang und Yin).
Die neptunische Energie hat die Skriptführung, wenn es um die Herausbildung der weichen Rollen des Opfers und des Retters geht. Die uranische Energie konstituiert die harten Rollen des Verfolgers und des Chaoten. In jede Rolle wird aber immer das ganze Horoskop integriert, wobei bestimmte Konstellationen im Horoskop die jeweilige Rolle entweder unterstützen oder differenzieren.
(vgl. das Schaubild Die Struktur einer Lebensrolle)
Hinter den vier neurotischen Rollen stehen vier gesunde Verhaltensweisen, die für die Erhaltung und Entwicklung des Lebens unentbehrlich sind. Unter Neptuneinfluß gewinnt der Mensch in Verbindung mit den Yang-Energien des Horoskops die Fähigkeit zur Anpassung (Rücksicht) und in Verbindung mit den Yin-Energien die Fähigkeit zur Hilfe. Unter Uranuseinfluß bekommt er dagegen in Verbindung mit Yin-Energien des Horoskops die Fähigkeit zur Zielstrebigkeit und in Verbindung mit Yang-Energien die Fähigkeit zur Selbstdarstellung (Erfindung).
Diese vier gesunden Lebensgrundeinstellungen bilden den positiven Kern der vier neurotischen Lebensrollen. An ihnen muß sich der Ausstieg aus einem neurotischem Fehlverhalten orientieren.
Die vier neurotischen Lebensrollen werden in der frühen Kindheit unter dem Einfluß der Familiensituation in eine Rangordnung gebracht, die ich als Skriptgefüge bezeichnet habe. Dieses Skriptgefüge hat aufgrund seiner neurotischen Schieflage eine große Bedeutung sowohl für die Partnerwahl als auch für Psychospiele in den Beziehungen. Es bleibt auch nach dem Ausstieg aus den neurotischen Rollen bestimmend für den richtigen Platz im Leben.
Die Lehre von den Ich-Zuständen und den vier neurotischen Lebensrollen, die das Horoskop auf vierfache Weise strukturieren, bildet den Kern meiner Gestalt-Astrologie.
Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2011
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