Das Skriptgefüge

Die Lebensrollen von Opfer, Retter, Verfolger und Chaot bzw. die entsprechenden gesunden Lebensgrundeinstellungen von Anpasung (Rücksicht), Hilfsbereitschaft, Normgebung (Zielstrebigkeit) und Selbstdarstellung (Erfindung) werden in der frühen Kindheit unter dem Einfluß der Familiensituation in eine Rangordnung gebracht, die ich als Skriptgefüge bezeichne. Die Entscheidung über den jeweiligen Rang trifft nach der Lehre der Transaktionsanalyse allein das Kind.

Jeder halbwegs gesunde Mensch besitzt eine Lock-und Verführungsrolle, die ganz an der Oberfläche der Persönlichkeit liegt. Sie wirkt immer angenehm auf die Umgebung und wird deshalb auch von dem betreffenden Menschen ständig eingesetzt. Die Lock- und Verführungsrolle wird durch die Verteidigungsrolle unterstützt, in der der Mensch ebenfalls kein übertriebenes Verhalten an den Tag legt.

Die Lock- und Verführungsrolle und die Verteidigungsrolle bilden zusammen die glattgezogene Oberfläche einer Persönlichkeit. Diese beiden Rollen wurden in der Familiensituation vom Vater oder von der Mutter akzeptiert und konnten deshalb problemlos erlernt werden. Die glattgezogene Oberfläche macht es möglich, daß Menschen miteinander auskommen und produktiv zusammenarbeiten können. Menschen, die diese Oberfläche nicht besitzen (etwa Geisteskranke oder Psychoten), können an dem normalen zwischenmenschlichen Leben nicht teilnehmen und müssen besonders betreut werden.

Unter Belastung (Frustrationen/Streß) ändert sich nun das Erscheinungsbild eines Menschen. Es gelingt ihm jetzt nicht mehr, die Situation mit der glattgezogenen Oberfläche seiner Persönlichkeit in den Griff zu bekommen. Anfangs wird er versuchen, die beiden Oberflächenrollen zu verstärken. Deshalb wechselt er aus einer der beiden positiven Lebensgrundeinstellungen in eine neurotische Lebensrolle, die aber immer noch an der Oberfläche seiner Persönlichkeit liegt. Erst bei weiterem Streß kommt eine andere Rolle zum Zuge, die etwas tiefer liegt und die ich als verdeckte Hauptrolle bezeichne. Diese neurotische Rolle ist bereits in der Lock- und Verführungsrolle und in der Verteidigungsrolle untergründig zu spüren, hat aber am Anfang noch nicht die Exekutive im Handeln. Trotzdem ist sie die eigentliche Hauptrolle eines jeden Menschen.

Die neurotischen Übertreibungen in der verdeckten Hauptrolle wurden in der Transaktionsanalyse nach Graden klassifiziert:

1. Grad:
Hierüber spricht man noch im Freundeskreis.

2. Grad:
Hierüber spricht man nicht mehr mit anderen Menschen.

3. Grad:
Es kommt zu bleibenden Schädigungen zwischenmenschlicher Beziehungen oder der Gesundheit.

(Gerichtsprozesse/Körperverletzungen/chronische Erkrankungen)

4. Grad:
Es geht um Leben oder Tod.

(Mord/Selbstmord/Selbstaufopferung/Verrücktheit)

(Anmerkung: Ich schlage vor, das Kriterium für den 1. bzw. 2. Grad dahingehend abzuändern, daß die Fähigkeit, auf Kritik konstruktiv zu reagieren, entscheidend ist. Wird die verdeckte Hauptrolle nur im 1. Grad übertrieben eingesetzt, dann kann sich der betreffende Mensch bei Kritik zurücknehmen.)

Die verdeckte Hauptrolle steht in unmittelbarer Verbindung mit der verdrängten Schattenrolle, vor der jeder Mensch eine oft geradezu panische Angst hat. Sie befindet sich ganz im Hintergrund der Persönlichkeit und konnte in der Familiensituation überhaupt nicht richtig erlernt werden, weil beide Elternteile mit ihr auf Kriegsfuß standen. Oft war es so, daß ein Elternteil diese Rolle sehr übertrieben eingesetzt hat, während der andere ihr grundsätzlich ablehnend gegenüberstand. Damit wurde das Kind völlig verunsichert. Um die verdrängte Schattenrolle nicht benutzen zu müssen, ist der Mensch später als Erwachsener bereit, sich immer weiter in die verdeckte Hauptrolle hineinzusteigern.

Das Skriptgefüge hat eine unter Umständen ganz gegensätzliche Struktur, je nachdem, ob sich der betreffende Mensch in einer sachlichen Situation (Beruf) oder in einer zwischenmenschlichen Beziehung befindet. So kann es z.B. vorkommen, daß die verdrängte Schattenrolle, wie sie im Beruf gelebt wird, in einer Beziehung zur Lock- und Verführungsrolle wird. Es ist deshalb für eine Beratung sehr wichtig, die Struktur des Skriptgefüges in beiden Lebensbereichen zu unterscheiden.

Das in der Kindheit entschiedene Skriptgefüge wird später vom Erwachsenen beibehalten. Dabei werden die gelernten Rollen mit einer gewissen Sturheit immer wieder eingesetzt, ohne Rücksicht auf die tatsächlichen Anforderungen der Realität im Hier und Jetzt. Die Psychologen sprechen deshalb vom Wiederholungszwang.

Die verdeckte Hauptrolle und die verdrängte Schattenrolle bilden den "dämonischen" Teil eines Menschen unter seiner glattgezogenen Oberfläche. Immer wieder gibt es hier Einbrüche, wo Menschen aus einer positiven Haltung (von einer hintergründigen Angst getrieben) in eine neurotische Rolle fallen, sich mehr oder weniger dämonisch verhalten und damit ihre Umgebung vor den Kopf stoßen. In der Transaktionsanalyse wird ein solcher Wechsel im Verhalten als Psychospiel bezeichnet. Dabei ist die Schnelligkeit, mit der man in ein Psychospiel einsteigt, immer ein Hinweis auf die Frustrationstoleranz des Betreffenden und auf den Grad, mit dem die neurotische Rolle eingesetzt wird.

In einem Psychospiel werden, wie gesagt, die Rollen des Oberflächenbereichs mit der verdeckten Hauptrolle auf geschickte Weise verbunden. Ein hilfsbereiter Mensch ist z.B. oft zugleich ein verdeckter Verfolger. Das zeigt sich spätestens dann, wenn ihn ein Opfer bzw. ein Chaot lange genug genervt haben. Auch ein sensibler Mensch ist nicht nur schwach und hilfsbedürftig, sondern manchmal ebenfalls ein rebellischer Verfolger, der sich passiv-aggressiv gegen die Fremdbestimmung durch einen Retter oder Verfolger zur Wehr setzt, die er andererseits zuvor durch sein Verhalten selbst angelockt hat.

Alle Positionen im Drama-Viereck sind unaufrichtig und können deshalb auf Dauer nicht durchgehalten werden. Die verdeckten Positionen wollen aufgedeckt werden und bringen so die Dynamik eines Psychospiels in Gang. Sie provozieren einen ständigen Wechsel der Rollen, bis am Ende die Beteiligten erschöpft sind oder im Streit die Kommunikation abbrechen. Dabei hat das Psychospiel letztlich den Zweck, die vierte ungeliebte Angst-Rolle, nämlich die verdrängte Schattenrolle, um fast jeden Preis zu vermeiden. Die heilsame Paradoxie des Lebens besteht darin, daß der Mensch gerade durch sein Spiel gezwungen wird, sich mit dieser Rolle auseinanderzusetzen.

Ein Beispiel:

Ein Vorgesetzter ist unter normalen Bedingungen in seinem Verhalten im Beruf sehr kreativ und für unkonventionelle Lösungen im Produktionsprozeß ansprechbar (Fähigkeit zur Erfindung als Lock- und Verführungsrolle). Er packt auch selbst mit an, um die anfallende Arbeit zu erledigen (Fähigkeit zur Hilfe als Verteidigungsrolle). Unter Streß legt er aber ein autoritäres Verhalten an den Tag, das so weit geht, daß er seine Mitarbeiter überfordert und ihnen sogar die Schuld an eigenen Fehlern und Versäumnissen zuschiebt (Verfolgerrolle als verdeckte Hauptrolle). Panische Angst hat er dagegen davor, daß ihn die Mitarbeiter schwach und hilflos erleben oder auch nur seine menschlichen Grenzen wahrnehmen können (Angst vor Hilflosigkeit (= Akzeptieren einer Schwäche) als verdrängte Schattenrolle).

Diese verdrängte Schattenrolle ist das eigenliche hintergründige Motiv für seine Verfolgerhaltung. Steigert er sich nun bei schwierigen Problemen weiter in diese Verfolgerrolle hinein, dann kann es in der innerbetrieblichen Kommunikation zu erheblichen Störungen kommen. Wichtige Mitarbeiter werden ihm auftretende Probleme gar nicht mehr mitteilen oder auf eigenen Wunsch die Firma verlassen (komplementäre Opfer-Rolle bei den Mitarbeitern, die es unter Druck nicht mehr wagen, sich selbst zur Geltung zu bringen). Je nachdem, wie hart dieses Spiel gespielt wird, könnte die Endauszahlung darin bestehen, daß die Firma in den Bankrott getrieben wird.

Sehr wahrscheinlich ist nun, daß derselbe Vorgesetzte in einer Beziehung ein völlig anderes Verhalten an den Tag legt. Er könnte z.B. zu Hause eine gewisse Müdigkeit und Lustlosigkeit zeigen, was ihn aber andererseits im Gespräch zu einem einfühlsamen und rücksichtsvollen Partner machen würde (Fähigkeit zur Anpasung als Lock- und Verführungsrolle). Er könnte außerdem (wenn auch vielleicht mit etwas Aufmunterung) durchaus bereit sein, sich bei der Erledigung des Alltags mit einzubringen (Fähigkeit zur Hilfe als Verteidigungsrolle). Besonders unfähig wäre er dagegen in der kreativen Gestaltung der gemeinsamen Häuslichkeit, die er eher von seiner Partnerin erwartet (Angst vor Selbstdarstellung etwa bei Einladungen als verdrängte Schattenrolle), gegen deren Ideen und Planungen er aber dann rebellisch opponieren würde, wenn sie ihn zu sehr beanspruchen (Verfolgerrolle als verdeckte Hauptrolle).

Eine solche Spaltung der Persönlichkeit, die es wohl in früheren Jahrhunderten noch nicht gegeben hat, ist für unsere heutige Zeit geradezu typisch. In ihr drückt sich auf der persönlichen Ebene die allgemeine Zerrissenheit bzw. das Spezialistentum einer modernen Gesellschaft aus, was eben symptomatisch für die Dominanz der Wassermann-Energie ist.

Der dämonische Teil eines Menschen muß im Laufe des Lebens durchgearbeitet werden. Das ist allerdings nur möglich, wenn der Mensch seinen leidvollen Lebenserfahrungen nicht aus dem Weg geht. Die Rollen wurden in der frühen Kindheit unter Schmerzen erlernt und unter Schmerzen in das Skriptgefüge als verdeckte Hauptrolle bzw. verdrängte Schattenrolle eingesetzt. Sie können deshalb auch nur unter Schmerzen gelockert und zu gesunden Verhaltensweisen weiterentwickelt werden. Dabei muß die verdeckte Hauptrolle gebremst, die verdrängte Schattenrolle hingegen gestärkt werden. Beides geht nur gleichzeitig, weil diese Rollen in Form einer Kompensation miteinander verbunden sind.

Das Skriptgefüge ist wie ein "Fluch", den das Kind in seinem magischen Alter über sich selbst verhängt hat. Später im Erwachsenenleben, muß dieser Fluch erfüllt werden. Dabei tastet sich jedoch der Erwachsene nur sehr vorsichtig an den Grad heran, den er als Kind für seine verdeckte Hauptrolle beschlossen hat. Das ist der Grund, warum sich in Beziehungen die dramatischen Verhaltensweisen immer erst im Laufe der Zeit einstellen. Was am Anfang noch erträglich schien, wird bald zunehmend schwieriger. Der "Fluch" beginnt zu wirken.

Trotzdem muß eine solche Entwicklung positiv gesehen werden. Erst wenn sich der Fluch erfüllt hat, kann er gelöst werden. Es ist Unsinn zu meinen, mit guten Erklärungen könne man dem Menschen helfen, seinem Schicksal auszuweichen. Auch mit astrologischem Wissen ist es nur dann möglich, einen positiven Impuls zu geben, wenn die Situation bereits da ist und die inneren Energien einen Neuanfang als möglich erscheinen lassen.

Der Zusammenbruch eines Psychospiels wird in der TA manchmal ebenfalls als Opfersituation bezeichnet. Besser spricht man aber hier, um sie von der selbst gewählten Opferrolle der Hilfsbedürftigkeit abzugrenzen, von einer Position der Sinnlosigkeit oder der Verzweiflung. Sie wird bezeichnenderweise von beiden Kontrahenten oft gemeinsam eingenommen, wobei allerdings zunächst jeder Spieler glaubt, er könne "den anderen zur Verzweiflung treiben", ohne selbst davon betroffen zu werden. Er wird jedoch erleben, daß er sich selbst - wenn auch mit einem gewissen zeitlichen Abstand - ebenfalls in diese Situation hinein manövriert hat.

Ist es einem Menschen beschieden, den dämonischen Anteil seiner Persönlichkeit zu überwinden, dann zeigt sich der "goldene Kern", der transzendente Grund, mit seiner ganzen Strahlkraft. Dieser transzendente Grund ist nichts anderes als die Anwesenheit Gottes selbst im Inneren des Menschen. Sein Licht kann jetzt unbehindert hindurchscheinen und die ganze geschaffene Wirklichkeit des Menschen verwandeln. Diese Transparenz für Transzendenz ist nach Dürckheim ("Vom doppelten Ursprung des Menschen") der eigentliche Auftrag des menschlichen Lebens.

(vgl. das Schaubild Dynamik des Lebens (2))

Trotzdem darf der Ausstieg aus dem Skriptgefüge nicht so verstanden werden, als könnten jetzt von dem betreffenden Menschen alle vier gesunden Lebensgrundeinstellungen gleichmäßig im Leben eingesetzt werden. So weit reicht die Freiheit des Menschen nicht. Auch ein gesunder Mensch wird unter Belastung immer noch zu der Verhaltensweise greifen, die unter seiner verdeckten Hauptrolle als positiver Kern verborgen liegt. Daran ist nichts Falsches. Hier liegt sogar eine besondere Chance, denn aus der neurotischen Schieflage seines Skriptgefüges gewinnt der Mensch eine Stärke, die ihm erhalten bleibt, nachdem er gesund geworden ist. Er muß deshalb vor allem danach streben, den richtigen Platz im Leben zu finden, der zu seinem Skriptgefüge paßt.

Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2011

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