Was ist Sachlichkeit?

Das Erwachsenen-Ich

Das Erwachsenen-Ich antwortet auf die Anforderungen der Wirklichkeit im Hier und Jetzt mit einer nüchternen und realistischen Einstellung. Der Mensch wird dadurch in die Lage versetzt, mit seinem Verhalten der jeweiligen Situation im rechten Maß zu entsprechen. Neben dem Erwachsenen-Ich kennt die Transaktionsanalyse zwei Elternrollen und zwei Kindrollen, die einerseits das Prinzip der Betroffenheit (fürsorgliches Eltern-Ich und angepaßtes Kind-Ich) andererseits das Prinzip der Erregung (kritisches Eltern-Ich und freies Kind-Ich) repräsentieren. Nach ihrer Ansicht sollte der ausgeglichene Mensch diese Rollen mit dem Erwachsenen-Ich verbinden und gewissermaßen in einem einzigen komplexen Ich-Zustand leben, der sämtliche Ich-Zustände in sich ausbalanciert. Dieser Zustand wird als "Integriertes Erwachsenen-Ich" bezeichnet.

Astrologisch gesehen entspricht dem Erwachsenen-Ich das Steinbock-Prinzip (Saturn), das sich aber mit den vernünftigen Fähigkeiten des Jungfrau-Prinzips (Chiron) verbinden sollte.

In der Transaktionsanalyse spricht man von einer neurotischen Trübung des Erwachsenen-Ichs, wenn Elternrollen bzw. Kindrollen negativ (dh. übertrieben oder untertrieben) gelebt werden. Bei einer Psychose haben wir es sogar mit einem Ausschluß des Erwachsenen-Ichs zu tun.

Es wird allerdings auch davor gewarnt, die Gesundheit des Menschen allein darin zu sehen, daß er ausschließlich im Erwachsenen-Ich lebt. Das wäre die unmenschliche Haltung einer übertriebenen Sachlichkeit, die sich gleich weit entfernt hält von Betroffenheit (Neptun) und Erregung (Uranus). Ein solcher Mensch ist scheinbar durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Hier handelt es sich ebenfalls um eine Trübung des Erwachsenen-Ichs, allerdings in entgegengesetzter Richtung.

Ich beobachte ein solches Verhalten besonders bei karrierebewußten Politikern und Wirtschaftsführern, etwa in Interviews, wo eine formelhafte Sprache gepflegt wird, die inhaltsleer bleibt, aber äußerlich unangreifbar ist. Offenbar kann auch das nüchtern-sachliche Erwachsenen-Ich, das eigentlich die vier anderen Ich-Zustände integrieren sollte, selbst zum Problem werden. In diesem Fall handelt es sich durchaus um einen neurotischen Ich-Zustand, den man vielleicht mit dem Begriff "Professionalität" bezeichnen könnte. Der "Profi" scheint genau der Menschentyp zu sein, an dessen Sprache man die kalte Sachlichkeit des Nur-Experten am besten erkennen kann. Dabei dienen die viel zitierten Sachzwänge ("Es gibt keine Alternative") oft nur als Deckmantel für ein im Grunde fantasieloses und rücksichtsloses Verhalten in Wirtschaft und Politik.

Wird eine überzogene Sachlichkeit nicht auf der geistig-seelischen sondern auf der körperlich-vitalen Ebene gelebt, dann können die Menschen Zwangshandlungen entwickeln. Alltägliche Verrichtungen (z.B. das Händewaschen) werden übertrieben wichtig genommen und dann entsprechend sinnlos wiederholt, weil die Energien nicht für Betroffenheit (Neptun) und Erregung (Uranus) eingesetzt werden und so für sachliche Tätigkeiten zusätzlich zur Verfügung stehen. Aus Angst, die sachliche Mitte des Lebens durch Sensibilität oder Aggressivität zu verlieren, geraten solche Menschen zunehmend in den Sog von ritualisierten Handlungen, mit denen sie sich die Sicherheit eines "normalen Lebens", aber oft von einer hektischen Unruhe getrieben, immer wieder zu bestätigen suchen.

Vom astrologischen Standpunkt aus läßt sich diese Sicht bestätigen. Die Steinbock-Energie gibt dem Menschen einerseits die Fähigkeit, das Leben von der realistischen Seite anzupacken. Das Leben braucht andererseits aber auch Betroffenheit (Fische-Energie) und Erregung (Wassermann-Energie), wenn es stabil bleiben und sich entwickeln soll. Beide Energien sind dem Steinbock völlig fremd und können deshalb von ihm nicht vertreten werden. Allerdings müssen Betroffenheit und Erregung im rechten Maß zum Zuge kommen. Dafür braucht die Steinbock-Energie die Unterstützung der Jungfrau-Energie, die mit ihrer Fähigkeit zur Einsicht die Möglichkeit schafft, daß eine lebendige, nichtneurotische saturnale Ordnung entsteht, die genau von der Transaktionsanalyse gemeint ist, wenn sie vom "Integrierten Erwachsenen-Ich" spricht.

Im folgenden habe ich einige Verhaltensmuster aufgelistet, die meiner Meinung nach typisch für das gesunde Erwachsenen-Ich sind:

das rechte Maß finden

 Extreme vermeiden / die Mitte suchen

 Kompromisse erkennen und akzeptieren

vernünftige Entscheidungen treffen

Vorsätze in die Tat umsetzen

 Verantwortung für die Folgen übernehmen

andere nicht ständig verunsichern / berechenbar bleiben

 die eigenen und die fremden Interessen nüchtern analysieren

 Betroffenheit und Erregung nicht verabsolutieren

 spontan reagieren, aber auch eine Linie durchhalten können

 die eigene Sprunghaftigkeit und Unberechenbarkeit nicht als "Lebendigkeit" verkaufen

 die eigene Gefühlsfähigkeit und das eigene Temperament nicht von anderen erwarten

 sich nicht zu klein, sich aber auch nicht zu groß machen

 das Persönliche nicht gegen das Allgemeine ausspielen ("Ich bin eben Ich")

 akzeptieren, daß das Leben eine Struktur braucht

 Normalität (Langeweile) nicht verachten

 über die eigenen Schwierigkeiten mit anderen vernünftig reden können

 lernfähig sein

 wissen, daß hinter jeder Schwäche eine Stärke steht

 sich beherrschen lernen / ruhig und bestimmt auftreten

 eine normale Tonlage finden

 die eigenen Begabungen und Grenzen akzeptieren

sich entschuldigen können

 anderen verzeihen

sich im rechten Maß für Sensibilität und Aggressivität öffnen

 

Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2011

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