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Sündenböcke und Idole

 Neptun und Uranus für die Herrschaftssicherung

Kennen Sie den Spruch: "Ein Sklave will niemals wirklich frei werden, sondern höchstens Ober-Sklave sein"? In diesem Satz klingt viel Resignation an. Man kann ihn aber auch anders verstehen: Er spricht von einem tiefen Mißtrauen gegenüber der Möglichkeit einer durchgreifenden Systemveränderung zugunsten der sogenannten kleinen Leute. Er drückt eine tiefsitzende Angst aus, den Mächtigen nicht gewachsen zu sein, und er rät deshalb dazu, lieber im System danach zu streben, etwas aufzusteigen, als es mit einer Revolte total verändern zu wollen.

Wahrscheinlich haben die sogenannten kleinen Leute mit ihrer Lebenserfahrung Recht. Sie haben in ihrem Leben ganz praktisch erfahren, was es heißt, am kürzeren Hebel zu sitzen. Die intellektuellen Wortführer dagegen, die aus einer idealistischen Analyse heraus die gesellschaftlichen Verhältnisse als radikal ungerecht kritisieren und deshalb unter Umständen zu einer Revolution raten, leben in einer ganz anderen Welt: Sie sitzen in einer bürgerlichen Nische und können sich die Enge der Lebensumstände derjenigen, die sie retten wollen, gar nicht realistisch vorstellen.

Sie müssen auch nicht unbedingt selbst die Folgen einer Revolution, wenn sie dann geschieht, am eigenen Leib erfahren. Ein Napoleon starb auf der Insel Helena eines natürlichen Todes an Magenkrebs, während die Französische Revolution etwa 50 Tausend Menschen (meistens auf der Guillotine) das Leben kostete und Napoleon anschließend weitere Hunderttausende durch seine ständigen Kriege in den Tod führte. Ein Lenin starb 1924 immerhin im eigenen Bett, während Millionen Russen in den Interventionskriegen, die der Revolution von 1917 folgten, ums Leben kamen. Stalin regierte anschließend bis 1952 unangefochten als Diktator mit einem System des Terrors, das wiederum für Millionen Russen Zwangsarbeit und Vernichtung ihres Lebens bedeutete. Welch ein Preis für einen radikalen gesellschaftlichen Umsturz!

Solche geschichtlichen Erfahrungen haben sich tief in das Gedächtnis der sogenannten kleinen Leute eingebrannt. Sie wissen, es gibt offenbar keinen einfachen Weg zu einer gerechteren Gesellschaft. Wer an der Macht ist, hat diesen Platz nicht ohne Grund: Er ist mit Eigenschaften ausgestattet, die es ihm ermöglicht haben, nach oben zu kommen, und er wird diesen Platz auch mit der dazu notwendigen Rücksichtslosigkeit verteidigen, die sie selbst nicht haben. Wer ihn vom Sockel stoßen will, muß deshalb ganz ähnliche brutale Eigenschaften besitzen und er wird, wenn er die Macht erobert hat, sich auch ganz ähnlich verhalten wie der gestürzte Machthaber. Das scheint ein unumstößliches Lebensgesetz zu sein.
(siehe meinen Artikel Macht und Gerechtigkeit)

Ich kann deshalb mit gutem Gewissen nicht den revolutionären Umsturz predigen, obwohl die Verhältnisse auf der Welt nach meiner Beurteilung danach schreien, radikal verändert zu werden. Selbst Papst Franziskus hat gesagt: "Diese (kapitalistische) Wirtschaft tötet", und er hat Recht mit dieser Aussage. Aber ich sitze als ehemaliger Lehrer mit Pension in einer Nische und darf schon aus diesem Grund nicht versuchen, andere Menschen in ein Abenteuer der Revolte zu treiben. Die Veränderungen müssen kommen, wenn die Menschheit überleben will, aber sie werden – wenn überhaupt – durch eine Bewußtseinsveränderung kommen und wahrscheinlich durch ökologische Zwänge.

Für eine solche Bewußtseinsveränderung können intellektuell veranlagte Menschen in der Tat etwas tun und Astrologen sollten sogar ganz vorn mit dabei sein genau wie religiös eingestellte Menschen. Leider geschieht das viel zu selten. Im folgenden Artikel will ich deshalb auf einen psychologischen Mechanismus aufmerksam machen, der zur Herrschaftssicherung sehr viel beiträgt. Er läßt sich am besten beschreiben mit den Begriffen "Identifikation und Aggressivität":

projektion

Es ist für Astrologen sicher interessant, daß zur Absicherung von Machtverhältnissen sowohl die uranische als auch die neptunische Energie Verwendung finden kann. Den Ausgangspunkt bildet in beiden Fällen die normale Realität (Saturn), die sich gesellschaftlich gesehen als "gut und schlecht" zugleich beschreiben läßt. Eine vollständige Verdorbenheit der Verhältnisse gibt es nicht auf dieser Welt. Es bleiben immer relative gute Spielräume bzw. Nischen übrig, auch wenn sie oft sehr eng und unbefriedigend sind. Innerpsychisch gesehen sind wir Menschen aber auch zugleich "stark und schwach", wir haben also unsere Grenzen und Schattenseiten, die es uns schwer machen, miteinander auszukommen. Sie fallen uns selbst sogar manchmal aufs Gewissen, indem wir erfahren, wie wenig wir einem idealen Selbstbild, das wir von uns haben, entsprechen. Es ist also grundsätzlich schwierig, sich mit der Realität, die wir in uns tragen und die uns gleichzeitig von außen begegnet, auszusöhnen. Das ist der Ansatzpunkt für bestimmte Herrschaftsstrategien:

Die erste Strategie ist die typische Manipulation in Verfolger-Zeiten, also für die sogenannte Moderne: Bestimmte Menschengruppen werden zu Sündenböcken dämonisiert.

Auf sie werden die schlechten Anteile unseres Ichs bzw. die Mißstände der Gesellschaft projiziert, wodurch sich sowohl die eigene Person von ihren Schattenseiten reinigen kann als auch eine einfache Lösung für die Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft gefunden wird. In der Vergangenheit hatten zunächst die von den Seefahrern entdeckten Eingeborenen (in Amerika die Indios, in Afrika die Neger), die als "Wilde"  christianisiert werden mußten, die Rolle des Sündenbocks zugewiesen bekommen. In Europa bestanden vor allem Vorurteile gegenüber den Juden, die als "Gottesmörder" galten und heute sind es wohl Arbeitslose und Migranten, die als "Sozialschmarotzer" bzw. "Wirtschaftsflüchtlinge" diskriminiert und an den Pranger gestellt werden. Es gibt aber neben diesen Haupt-Sündenböcken im Alltag viele Neben-Sündenböcke. Diese Projektion hat also uranischen Charakter. (Verfolgung wird ermöglicht durch die Energieverbindung von Uranus, Saturn, Pluto und Mars. Neptun wird projiziert auf die Opfer.)

Es ist immer der Andersartige, der Fremde oder der Außenseiter, der sich für diese Rolle eignet. Da ihm durch Projektion alle schlechten Eigenschaften zugeschoben werden, halten sich die anderen Mitglieder der Gesellschaft natürlich für die Guten, die sich damit gleichzeitig das Recht geben, gegen solche Sündenböcke aggressiv vorgehen zu dürfen.

Diese müssen zur Ordnung gerufen, unterdrückt, bestraft oder sogar ausgemerzt werden, damit das schwierige Leben wieder ausgehalten werden kann. Für die Machthaber hat die Projektion auf Sündenböcke die Funktion, von den eigentlichen Mißständen in der Gesellschaft ablenken zu können. Die Unterdrückten werden gewissermaßen aufeinander gehetzt, oder, um im obigen Bild zu bleiben, die Ober-Sklaven jagen die Unter-Sklaven und lassen auf diese Weise die Herren in Ruhe.

Die zweite Strategie ist die typische Strategie in Chaoten-Zeiten, also für die sogenannte Postmoderne: Bestimmte einzelne Menschen werden zu Idolen idealisiert.

Auf sie werden alle guten Anteile unseres Ichs projiziert, so daß sie als die vollkommenen Vorbilder dastehen. Es sind die Superstars in Sport, Film oder Popmusik, die uns mit besonderen Fähigkeiten beeindrucken, so daß wir von ihnen glauben, daß bei Ihnen alles in Ordnung ist und sie das Leben total im Griff haben. Es können aber auch nur die Reichen, Mächtigen und Schönen sein, die uns mit ihrem außerordentlichen Leben und ihrem inszenierten Glanz beeindrucken. Diese Projektion hat also neptunischen Charakter. (Identifikation wird ermöglicht durch die Energieverbindung von Neptun, Sonne, Jupiter und Venus. Uranus wird projiziert auf das Idol.)

In beiden Fällen schaffen es die sogenannten Fans bzw. Staatsbürger durch Identifikation, gewissermaßen in ihr Idol hineinzuschlüpfen und sich einzubilden, sie hätten Anteil an seinem Leben. Im Extremfall kann die Einbildung so weit gehen, daß sie glauben, sie wären fast identisch mit ihrem Idol.

Dabei helfen oft Accessoires, die auch für den kleinen Mann erschwinglich sind wie gleiche Kleidungsstücke, dieselbe Haartracht, dasselbe Bier, dieselbe Zigarettenmarke usw. Nicht umsonst werden Idole als Werbeträger eingesetzt. Im Unterschied zur Sündenbock-Strategie orientiert man sich bei der Idol-Strategie nicht nach unten sondern nach oben. Die Identifikation mit dem scheinbar absolut guten Idol entlastet aber genauso von der mit Mängeln behafteten Realität des eigenen Lebens wie die Aggressivität gegenüber Sündenböcken. Dabei kann die Identifikation sogar jederzeit in Aggressivität umschlagen, nämlich dann, wenn von anderen Menschen die absolute Geltung des eigenen Idols in Frage gestellt wird.

Von linken gesellschaftskritischen Leuten wird die Möglichkeit der Idolisierung mit anschließender Identifikation als Herrschaftsmethode in der Regel unterschätzt. Da sie selbst als Intellektuelle nicht allzu sehr dazu neigen, sich von irgendwelchen Stars unterhalten zu lassen, meinen sie oft, anderen ginge es genau so. Dem Volk ist aber die angenehme Unterhaltung oder die Bewunderung von Glanz und Schönheit viel wichtiger als der gefährliche Kampf um mehr Gerechtigkeit. Die Machthaber in Wirtschaft und Politik wissen das sehr genau und tun alles, um den Unterdrückten Gelegenheiten zu bieten, sich mit den Unterhaltungs-Stars bzw. mit sich selbst in glanzvoller Inszenierung zu identifizieren. Der alte römische Grundsatz: "Gib dem Volk Brot und Spiele" drückt genau diese Herrschaftsmethode aus, wobei im Zweifel die Spiele zur Unterhaltung bzw. der Glanz in der Öffentlichkeit noch wichtiger sind als das Brot zum Leben. Denn je karger das Brot den Menschen zugeteilt wird, desto glanzvoller muß der Unterhaltungssektor sein.

An dieser Stelle könnte von manchen Lesern eingewendet werden: Bieten nicht sowohl Sündenböcke als auch Idole berechtigte Ansatzpunkte für Kritik bzw. Bewunderung? Sind also - einmal ganz abgesehen von unzulässigen Verallgemeinerungen - manche Vorurteile gegenüber Sündenböcken nicht doch berechtigt und ist andererseits die Identifikation mit Menschen, die etwas Besonderes leisten, nicht auch verständlich? Diese Verhaltensweisen der Dämonisierung bzw. der Vergötterung sind doch nicht immer völlig aus der Luft gegriffen.

Wenn z.B. ein alkoholabhängiger Obdachloser von einem Facharbeiter, der regelmäßig seiner Arbeit nachgeht und seine Familie gut versorgt, verachtet wird, dann ist eine solche Einstellung - oberflächlich gesehen - scheinbar berechtigt. Solche Menschen werden schnell zu Sündenböcken und es gibt ihnen gegenüber das Vorurteil, daß sie alle arbeiten könnten, wenn sie nur wollten. Nur, kennt jener Facharbeiter wirklich die Lebensumstände dieses Obdachlosen, seine Herkunftsfamilie, seine individuelle Veranlagung, eventuelle Schicksalsschläge, um ein gerechtes Urteil zu fällen? Es gibt den Spruch: Niemand sollte über einen anderen richten, bevor er nicht einen Monat lang in seinen Schuhen gegangen ist. Und von Gustav Heinemann, einem ehemaligen Bundespräsidenten, ist das Wort überliefert: Wer mit zwei Fingern (Daumen und Zeigefinger) auf andere Menschen zeigt, sollte sehen, daß drei weitere Finger auf ihn selbst zurückzeigen. Das vorschnelle Urteil über Menschen in einer Opferposition drückt auch sehr viel Arroganz aus. Die Ursachen von großen Lebensproblemen wie Obdachlosigkeit und Armut sind kompliziert und in unserer Gesellschaft vor allem strukturbedingt. Sie können deshalb nicht allein und auch nicht in erster Linie durch persönliche Anstrengungen überwunden werden.

Umgekehrt ist aber auch die Bewunderung von Idolen voreilig. Idole leisten in der Tat oft etwas Besonderes. Aber es wäre völlig naiv, diese Leistung ihnen ganz allein zuzuschreiben. Eine besondere Begabung wurde wahrscheinlich schon sehr früh von den Eltern entdeckt und entsprechend mit allen Mitteln gefördert. Die Umstände in der Gesellschaft waren wohl auch entsprechend günstig, um mit dieser Begabung glänzen zu können. In einer primitiven mittelalterlichen Gesellschaft wäre z.B. selbst ein Mozart nicht zum Zuge gekommen, sondern hätte höchstens als Schafhirte auf der Flöte gespielt. Hinzu kommt, daß den Idolen alle normalen und unangenehmen Tätigkeiten weitestgehend abgenommen werden, so daß sie sich ganz auf ihre einseitige Begabung konzentrieren können. Ein Profifußballer muß eben nur hervorragend Fußball spielen können, alles andere im Leben kann er sich für Geld kaufen. Daß er dann in einer Beziehung vielleicht vollkommen versagt oder sein Leben mit Drogen ruiniert, zeigt nur, wie groß der verdrängte Schatten ist, mit dem seine Superleistung erkauft wurde. Davon wird man in den Medien aber erst lesen oder hören, wenn das Idol verbrannt ist und durch ein anderes ersetzt wird.

Sowohl die Aggressivität gegenüber Sündenböcken als auch die Identifikation mit Idolen kennzeichnen unser Gesellschaftssystem. Wir leben im Kapitalismus und hier gelten als oberste Werte ständige Reichtumsmehrung (Wirtschaftswachstum) und Leistungsstärke (Wettbewerbsfähigkeit). Sündenböcke sind die Looser, die hier versagt haben, die Idole hingegen haben es zu besonderen Erfolgen gebracht. Sündenböcke und Idole sind die beiden Extrempole, die uns die Gesellschaft ständig vor Augen hält, damit wir uns von dem einen Pol (den Sündenböcken) fernhalten und zu dem anderen Pol (den Idolen) hinstreben. Die Frage ist nur, ob der Kapitalismus eine menschenwürdige Gesellschaft schaffen kann und ob wir uns selbst einen Gefallen tun, wenn wir uns diesem System völlig einordnen.

Natürlich greifen die Machthaber auch zur nackten Gewalt, wenn Sündenböcke und Idole nicht mehr ausreichen, um ihre Macht zu stabilisieren. Solange die Verhältnisse aber so sind, daß die Herrschaftssicherung vor allem durch diese Projektionen erfolgt, gibt es auch die Möglichkeit, sich ihnen zu entziehen.

Dazu gehört zunächst das Wissen um solche Gesetzmäßigkeiten. Hierzu soll dieser Artikel einen Beitrag leisten. Wichtiger erscheint mir aber noch die Fähigkeit, sich mit der Realität des normalen Lebens aussöhnen zu können. Wir haben dabei alle unsere Ansprüche und erwarten vom Leben, das es bei der Befriedigung mitspielt. Das wird aber nicht immer der Fall sein und dann können wir unseren Frieden nur finden, wenn wir unsere Ansprüche verändern. Es geht dabei nicht um den vollständigen Verzicht, sondern letztlich immer um eine Verinnerlichung unserer Bedürfnisse. Auf der körperlichen Ebene ist ihre Befriedigung besonders gefährdet und wird von mächtigeren Mitmenschen sehr oft im Konkurrenzkampf verhindert.

Auf der geistig-seelischen Ebene und erst recht auf der spirituell-religösen Ebene bleibt aber eine Befriedigung möglich. Wer z.B. keine Karriere machen konnte oder wer im Beruf große Enttäuschungen erleben mußte, hat dafür vielleicht eine glückliche Beziehung oder ein harmonisches Familienleben mit seinen Kindern. Vielleicht hat er auch Zeit für ein künstlerisches Hobby oder einen angenehmen Freundeskreis. Im vorgerückten Alter findet er unter Umständen sogar eine lebendige Beziehung zu seinem Glauben und dem Sinn seines Lebens. Das ist nicht einfach "Opium fürs Volk", wie Karl Marx die Religion kritisiert hat, wodurch die Unterdrückten auf das Jenseits vertröstet und vom Klassenkampf abgehalten werden.

Ich halte eine solche Verinnerlichung der Bedürfnisbefriedigung für eine realistische Möglichkeit, mit dem eigenen Leben ins Reine zu kommen, ohne sich in aussichtslose Machtkämpfe zu verstricken und ohne sich mit Ersatzbefriedigungen wie Identifikationen und Aggressivitäten entlasten zu müssen.

Rolf Freitag, Schule für Psychologische Astrologie in Heiligenhaus, 2015

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